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Was ist Psychoanalyse?
Die Psychoanalyse Sigmund Freuds hat sich als lebendige Wissenschaft etabliert und hat neben einer Behandlungsmethode und einer seelischen Entwicklungstheorie eine Kulturtheorie entworfen. Zu letzterer sind z.B. folgende Werke Freuds zu rechnen: „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“, „Totem und Tabu“ und „Das Unbehagen in der Kultur“.
Schon lange bereichert die psychoanalytische Kulturtheorie zeitgenössische Themen aus Kunst und Kultur. So liefert sie wertvolle Beiträge zur Genderdebatte, zu Großgruppenphänomenen, zu politischen Großereignissen etc.
Zur Einführung in die Psychoanalyse sind Freuds „Abriß der Psychoanalyse“ (1940) und „Neue Folgen der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1933) zu empfehlen. 1923 („Libidotheorie. Psychoanalyse.“) definierte er die Psychoanalyse folgendermaßen:
„Psychoanalyse ist der Name 1.) für ein Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2.) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet, 3.) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.“ – Doch gilt, ebenfalls 1923: „Sie (die Psychoanalyse) tastet sich an der Erfahrung weiter, ist immer unfertig, immer bereit, ihre Lehren zurechtzurücken oder abzuändern“.
Zu 1. Unzugänglich sind die seelischen Vorgänge, die wir „unbewusst“ nennen, wenn auch nicht unterbewusst, denn sie befinden sich nicht in einer unteren Schublade der Seele. Die analytische Theorie geht davon aus, dass das Individuum im Laufe seiner Entwicklung von Geburt an nicht zu bewältigende konflikthafte Zustände und Emotionen unbewusst verdrängen kann, was zu Symptombildungen Anlass gibt. DAS Unbewusste als einen Ort oder ein Organ gibt es aber nicht, weil eine Lokalisation im Körper nicht zu finden ist. Unbewusst kann somit nur adjektivisch gebraucht werden.
Die empirische Säuglingsforschung hat herausgefunden, dass schon der vorsprachliche Säugling sensomotorisch wahrnimmt, seine Beziehungen aktiv mitgestaltet und sich damit selbst zu erschaffen sucht. Dieser Aspekt hat dazu beigetragen, dass Psychoanalyse keine Therapie in dem Sinne ist, dass der Psychoanalytiker Therapieentwürfe erschafft und damit Ziele vorgibt. Es ist immer der Analysand, der wissentlich und/oder unbewusst im Laufe einer Analyse seine Ziele selbst erschafft.
Zu 2. Ursprünglich behandelte die Psychoanalyse Neurotiker, d.h. Menschen, die an einem unbewussten, sog. neurotischen Konflikt leiden. Dieser neurotische Konflikt kommt im Verhältnis zwischen Analysand und Analytiker zur Darstellung, wo er „erraten“ und gedeutet werden kann. Wir sprechen hier von Übertragung und Übertragungsanalyse.
Im Laufe der Zeit haben sich einige Analytiker daran gewagt, Psychotiker in Psychoanalyse zu nehmen und modifizierten dabei die etablierte Methode. Strukturelle und Persönlichkeitsstörungen machten ebenfalls Modifikationen in Theorie und Behandlungstechnik erforderlich.
Was ist nun eine Neurose? Die Neurose ist das Ergebnis innerer Umformungen infantil-sexueller und aggressiver Triebwünsche durch leidvolle bis hin zu traumatischen Beziehungserfahrungen. Durch Verdrängung der konflikthaft erlebten eigenen Impulse und Bedürfnisse entstehen ungelöste innere, unbewusste Konflikte. Es entwickeln sich Kompromisslösungen dieser Konflikte, die anfangs adaptiv sind, später häufig maladaptiv werden und Leiden durch psychische Symptome hervorrufen können. Die Neurose kann in unterschiedlichen Formen erscheinen wie Charakterneurose, Angstneurose, Organneurose, Zwangsneurose, Konversionsneurose, neurotische Depression und Hysterie. Es bestehen fließende Übergänge zum Gesunden.
Die psychoanalytische Behandlung widmet sich im Sinne einer Fernkausalität den vergangenheitsunbewussten Konflikten von damals und gleichzeitig einer aktuellen Nah-Kausalität gegenwärtiger seelischer Konflikte. Im Hier und Jetzt der aktuellen analytischen Arbeit von Patient und Analytiker, also in der Übertragung auf den Analytiker, wird eine therapeutisch wirksame und somit zugängliche Aktualisierung der Konflikte erschaffen. Diese Verklammerung von Damals und Heute wird in dieser Intensität nur in der Psychoanalyse thematisiert. Das „Hinabsteigen zu den tiefsten pathogenen seelischen Schichten“ (Fern-Kausalität) muss sich durch die Lösung der gegenwärtigen Probleme (Nah-Kausalität) rechtfertigen (vgl. Thomä & Kächele, 2006, S. 4-5).
Das Verständnis von Neurosen als Ausdruck innerer, unbewusster Konflikte impliziert, dass die Kompromissbildungen ihre beeinträchtigende Wirkung im jetzt und hier der analytischen Arbeit wie im gesamten bewussten und unbewussten Beziehungsleben entfalten. In der psychoanalytischen Behandlung werden neue Lösungen für unbewusste Konflikte gesucht, wodurch sich Symptombildungen meistens verändern. Freud nannte als Ziel: „lieben und arbeiten können“.
Zu 3. Die Psychoanalyse ist eine lebendige Wissenschaft, die sich seit mehr als einem Jahrhundert am Leben gehalten und immer weiterentwickelt hat.
Die Lehre vom Widerstand, von der Übertragung des Analysanden sowie der entsprechenden Gegenübertragung des Analytikers hat im Laufe der Zeit vielerlei Veränderungen durchlaufen, die Konzepte blieben jedoch grundlegend als wichtige Bestandteile der psychoanalytischen Lehre und Behandlungstechnik erhalten. Wesentliche Entwicklungen innerhalb der Psychoanalyse stellen der Ersatz der ursprünglichen Einpersonenpsychologie (des Analysanden) durch eine intersubjektive Zweipersonenpsychologie von Analysand und Analytiker und schließlich eine „Rêverie“ genannte träumerische Einfühlung des Analytikers in die unbewusste Welt des Analysanden, dar.
Diese Veränderungen gehen einher mit interessiertem Respekt des Analytikers für Rätsel und Geheimnis des Analysanden und besonders der Toleranz für sein eigenes Nicht-Wissen. Somit ist die psychoanalytische Methode zunehmend eine gemeinsame Arbeit von Analytiker und Analysand geworden.
Noch einmal Freud (1933), der eine patientenbezogene Flexibilität für notwendig hielt: „Die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehaltes, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt.“
Fazit: Die moderne Psychoanalyse hat den Beitrag des Analytikers zum therapeutischen Prozess als Intersubjektivität in den Mittelpunkt gerückt. Jedes Phänomen, das in der psychoanalytischen Situation spürbar wird oder beobachtbar ist, wird von Analysand und Psychoanalytiker erschaffen. Letztlich kann aber in der psychoanalytischen Deutungstechnik nicht ziellos kommuniziert werden. Die Ziele bleiben offen und werden durch die Spontaneität des Patienten, dessen freie Assoziation und kritische Prüfung der Ideen des Analytikers gestaltet. Der Analysand bleibt ein Sich-Selbst-Erschaffender.
Literatur:
Freud, S. (1905) Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. GW VI.
Freud, S. (1913) Totem und Tabu. GW IX.
Freud, S. (1923) Libidotheorie. Psychoanalyse. GW XIII, 211-233.
Freud, S. (1930) Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419-505.
Freud, S. (1933) Neue Folgen der Vorlesung über Psychoanalyse. GW XV.
Freud, S. (1940) Abriß der Psychoanalyse. GW XVII, 63-123.
Thomä, H. & Kächele, H. (2006) Psychoanalytische Therapie: Grundlagen. Berlin, Springer. 3 Auflage